Lettland und die russische Sprache 2023-2024 – Ergänzung zu Pressemeldungen
Kürzlich berichtete die Presse über Massnahmen der neuen lettischen Regierung unter der Premierministerin Evika Siliņa bezüglich den Sprachprüfungen, die lettische Russischsprachige ablegen müssen, um ihre Aufenthaltserlaubnis in Lettland zu behalten (NZZ, 13.1.2024 : «Lettland soll wieder lettisch werden»). Von Mitgliedern unseres Vereins wurden wir aufgefordert, dazu etwas zu sagen.
Natürlich können wir als Verein, der weltanschaulich neutral und pluralistisch ist, nicht im Namen aller und für alle Stellung nehmen. Wir möchten im Folgenden aber trotzdem zwei Sichtweisen zu dieser Frage aufführen. Die erste ist gespiesen aus der Erfahrung von Reisen nach Lettland im Jahr 2023, die zweite entspricht einer Wiedergabe des Standpunkts der lettischen Behörden im Jahr 2023 und 2024. Ein wichtiger Punkt besteht ausserdem in der nötigen Unterscheidung zwischen russischen Staatsangehörigen und Russischsprachigen. Denn anders als oft vermeldet betreffen die Neuerungen im Einwanderungsgesetz nur Erstere und nicht spezifisch die Russischsprachigen.
Erfahrung mit der russischen Sprache in Lettland 2023
Die Massnahmen der lettischen Regierung, die von der NZZ am 13. Januar 2024 thematisiert wurden, sind also anders als die Zeitung berichtet nicht gegen die russische Sprache als solche gerichtet. Was die Autorin der NZZ, Linda Koponen, die aus Daugavpils schreibt, nicht erwähnt: Die russischen Propagandasender, deren Übertragung in Lettland beendet wurde, sind durch– ebenso russischsprachige – ukrainische Sender ersetzt worden. Gewisse Programme in russischer Sprache waren und sind noch heute populär, nicht nur bei russischsprachigen Bewohnern und Bewohnerinnen Lettlands, sondern auch bei Zweisprachigen oder Lettinnen und Letten derjenigen Generation, die Russisch noch von früher kennt. Im August 2022 beschlossen Kabelnetzbetreiber in Lettland, kostenlos den populären ukrainischen Unterhaltungskanal «Kvartal TV» ins Angebot aufnehmen, was keinen Sinn machen würde, wenn es darum ginge, dass in Lettland gar kein Russisch mehr gesprochen werden sollte. Die Übertragung von «Kvartal TV» wurde von den Kabelnetzbetreibern Baltcom, Tet, Balticom, Telenet, Netvison, Starnet, Elekotron&K, Megogo un Skatvis gemeinsam beschlossen. Weiterhin zugänglich sind je nach Anbieter bis zu 6 Kinderkanäle, die auch auf Russisch senden, mehrere Newskanäle aus der Ukraine, Westeuropa oder sogar China in Russisch, Filmkanäle mit alten Filmen aus der Sowjetunion oder neueren Filmen, alles in Russisch.
Besser bekannt ist, dass verschiedene dissidente russischsprachige Medien (unter anderem meduza.io) in Lettland mit offenen Armen empfangen wurden. Dazu kommt, dass ukrainische Flüchtlinge eine Aufenthaltserlaubnis und das Recht haben, zu arbeiten, ohne ein Wort Lettisch zu können. Es ist nicht selten, dass man in Riga mit ukrainischen Chauffeuren Taxi fährt, die nur Russisch können. Anbei ein Zitat aus dem lettischen Arbeitsamt :
in the private companies, a person can be employed without a national language certificate if their activities do not affect legitimate public interests (public security, health, morals, health protection, consumer and labour rights protection, workplace safety, public administrative supervision).
https://www.nva.gov.lv/en/beglu-un-personu-ar-alternativo-statusu-nodarbinasana-darba-devejiem
Unterschiede zwischen Russen, Nichtbürgerinnen und Nichtbürgern und anderen Russischsprachigen
Man muss also unterstreichen, dass nicht alle Menschen, die Russisch sprechen, von der Neuerung des Einwanderungsgesetzes betroffen sind. Das wird aber von der Presse und auch der öffentlichen Meinung ausserhalb von Lettland so wahrgenommen. Dabei müsste unterschieden werden zwischen russischen Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern auf der einen Seite, und auf der anderen Seite ukrainischen Geflüchteten und anderen Russischsprachigen wie den sogenannten Nichtbürgerinnen und Nichtbürgern, die oft russischsprachig sind und die somit eindeutig ebenso wie die Geflüchteten nicht Gegenstand der neuen Regelung im Einwanderungsgesetz sind.
Zur rechtlichen Situation aus der Sicht der Regierung und Gerichte in Lettland
Die Änderungen des Einwanderungsgesetzes von 2023 sehen vor, dass in Lettland lebende russische Staatsbürger, die zuvor lettische Staatsbürger oder Nichtbürger waren, ein Mindestniveau lettischer Sprachkenntnisse (A2) nachweisen müssen, wenn sie sich weiterhin in Lettland aufhalten möchten. Zum Vergleich ist anzumerken, dass wer in der Schweiz eine Matur abschliesst, in der anderen Landessprache (z.B. Deutsch für Romands oder Französisch für Deutschschweizer) das Niveau B2 erreichen muss, d.h. zwei Stufen mehr als jemand, der den lettischen Pass will. Bei der Einbürgerung verlangt man in der Schweiz mündliche Kenntnisse auf der Stufe B1, was eine Stufe mehr ist als in Lettland. Der lettische Sprachtest kann mehrmals abgelegt werden, und die Sprachkenntnisse müssen nur einmal bescheinigt werden.
Für lettische Nicht-Staatsbürger bzw. sogenannte Nichtbürgerinnen und Nichtbürger gelten jedoch keine Änderungen. Lettische Nicht-Staatsbürger sind nicht staatenlos und gelten auch nicht als ausländische Staatsangehörige. Lettische Nicht-Staatsbürger und -bürgerinnen sind lettische Staatsangehörige: Das heisst, sie sind Staatsangehörige, ohne lettische Bürger zu sein, und sie haben somit das Recht, sich in Lettland aufzuhalten und dort dauerhaft zu leben. Die Kenntnis (oder Unkenntnis) der lettischen Sprache begründet oder beschränkt dieses Recht nicht.
Gemäss den lettischen Behörden ist das Ziel der Änderungen des Einwanderungsgesetzes von 2023, die Position der lettischen Sprache zu stärken, die Zugehörigkeit aller Bürger zu Lettland zu fördern, einen gemeinsamen Informationsraum zu schaffen und gleichzeitig die innere Sicherheit und Widerstandsfähigkeit des Landes zu stärken. Jedes Land, auch Lettland, habe – so unterstreichen dies lettische Behörden – das souveräne Recht, seine Grenzen zu verwalten und zu kontrollieren und das Recht von Personen auf Einreise und Aufenthalt im Land zu bestimmen. Die Festlegung der Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern in Lettland sei eine rechtspolitische Angelegenheit, die der Gesetzgeber zu entscheiden habe.
Anders als die sogenannten (oft auch russischstämmigen) Nichtbürger müssen nur russische Staatsbürger, die sich nicht an das Gesetz halten und dem Amt für Staatsbürgerschafts- und Migrationsangelegenheiten (PMLP) nicht die erforderlichen Dokumente zur Verlängerung ihres Aufenthalts in Lettland vorlegen, das Land verlassen. Die neuen Anforderungen gelten für 1,3 % der lettischen Bevölkerung (insgesamt 25 316 Personen). Das PMLP unterstützt bedürftige Personen mit Informationen, nimmt nach Möglichkeit mit jeder Person einzeln Kontakt auf und prüft jeden Fall einzeln. Bis Mitte Februar 2024 haben die meisten dieser Personen entweder Dokumente zur Verlängerung ihrer Aufenthaltsgenehmigung eingereicht oder Lettland verlassen.
Am 15. Februar 2024 entschied das lettische Verfassungsgericht, dass die Änderung des Einwanderungsgesetzes mit dem Grundgesetz des Landes in Einklang steht und nicht gegen Menschenrechtsnormen verstösst. Derzeit gehen bei der lettischen Migrationsbehörde Eingaben von Personen ein, die ihre Kenntnisse der lettischen Sprache nicht bestätigt haben und offensichtlich auch nicht beabsichtigen, dies zu tun, und die um Informationen über einen möglichen Zeitpunkt der Ausreise aus Lettland bitten.